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Hallo an alle,
ich wollte mich hier vorstellen und meine Erfahrungen teilen. Vorab möchte ich ehrlich sagen - ich halte eigentlich nicht viel von Tinnitusfora. Meiner Ansicht nach zementiert derlei Aktivität lediglich die Bedeutung, die der Tinnitus im Leben einnimmt: es ist daher auch nicht überraschend, dass Menschen, denen es besser geht, meistens aufhören, zu posten. Ich weiß daher auch nicht, wie lange ich bleibe.
Dennoch: in letzter Zeit kriselt es so sehr, dass ich mich doch austauschen wollte. Zunächst also zu meiner Geschichte.
Ich war immer ein recht unruhiger, nervöser Mensch mit Hang zu Depressionen und Zwangsstörungen. Klingt nach dem typischen Tinnitusprofil, was? Meinen ersten Tinnitus habe ich mit ca. 16 Jahren bekommen - damals war es ganz einfach ein Lärmtrauma. Rockkonzert ohne Gehörschutz. Nach einer erwartungsgemäß schwierigen Eingewöhnungsperiode beruhigte sich der Tinnitus wieder und blieb von da an mein Leben lang konstant. Ich nahm ich im Grunde niemals wahr. Ich ging auf Konzerte und Raves, achtete überhaupt nicht auf meine Ohren, und es war alles überhaupt kein Problem.
Bis zu diesem Jahr. Ich war dreißig geworden und hatte mich eben von meiner Freundin getrennt. Hinter mir lagen ein Paar Jahre, die viel mit Drogen und Party und wenig mit einem sinnvollen Leben zu tun hatten. Ich hatte viel Spaß gehabt, aber es war mir klar, dass ich die Bremse ziehen muss und so langsam mein Leben in andere Bahnen lenken. Ich hatte einen Haufen Probleme angesammelt, war mit meinem Job - ein Vollzeitbürojob als Entwickler, der erste in meinem Leben - nicht besonders zufrieden, ich hatte seltsame körperliche Beschwerden (jeden Abend Kopfschmerzen, Benommenheit etc.) und war mehr oder weniger in einer Sackgasse angekommen.
Die Trennung setzte mir sehr zu, und kurz darauf verstärkte sich mein Tinnitus massiv, insbesondere im linken Ohr - ich wachte einfach verkatert auf und da war er, laut und anders, als ich ihn kannte. Das war vor guten drei Monaten. Ab da ließ er mich nicht mehr los, wurde mal besser, mal schlechter, aber er war da und neu.
Ich habe natürlich die typische Tour durchgemacht - HNO, Neurologe, noch ein HNO und dann noch einer. Kortison, Gingko, Magnesium, Neurexan für die Nerven. Habe für zwei Wochen eine Auszeit genommen, war viel im Park lesen. Habe mit dem Trinken aufgehört (mit dem Rauchen wollte es aufgrund der Nervösität nicht klappen, die wegen des Tinnitus da war), dann wieder angefangen, bei geselligen Anlässen auch mal zu trinken. Beim Zahnarzt ließ ich mir die Zähne schleifen, um meinen Kiefer wieder in eine halbwegs richtige Position zu bringen. Beim Orthopäden ließ ich mir Physiotherapie verschreiben - die mache ich derzeit. All das hatte eines gemeinsam - wenn es mal geholfen hat, dann in einem Ausmaß, bei dem man von Regenmacherei sprechen kann. Ihr wisst schon, jemand nimmt Geld gegen das Versprechen, Regen zu machen. Wenn und falls es regnet, liegt es natürlich am Regenmacher. Falls es nicht regnet, muss man mehr Geld investieren.
Und *ganz genau so funktioniert das, denke ich, mit den Selbsttherapien für Tinnitus*. Mit dem Unterschied, dass man sein eigener Regenmacher ist. Gingko? Schlaftabletten? Vitamin B? Wenn der Tinnitus dieser Tage dann schwächer wird, lag's "natürlich" daran. Wenn nicht, dann muss man eben etwas anderes ausprobieren. Ich habe wie schon gesagt Zwangsstörungen und neige daher zu einem zwanghaften magischen Denken - ich weiß, wie sich das anfühlt. Wenn man sich fast schon einbildet, Zigaretten würden den Tinnitus abschwächen, oder eine ganz bestimmte Schlafposition, oder bestimmte Gedanken.
Die Wahrheit ist, dass es so gar nicht funktioniert. Tinnitus ist ja eine Wahrnehmungsstörug. Hat jemand schon mal davon gehört, dass man z.B. eine Halluzination mit irgendeiner externen Handlung einfach wegbekommen kann? Zumal mit irgendeiner, auf die man selbst stößt? Es kann natürlich Magnesium helfen - aber ich nehme mittlerweile an, dass es eher als Placebo hilft. Und Placebo hilft ja wirklich - indem es einem hilft, die Welt anders zu sehen. Buchstäblich anders zu sehen, oder vielmehr hören - und damit vielleicht die Wahrnehmungsstörung teilweise oder ganz zu beheben.
Das ist schwieriger, als man denkt - ich denke, das wissen hier so Einige. Das ist wie bei Muskelverspannungen - man spannt ja seine Muskeln nicht bewusst an, weiß gar nicht, dass man verspannt ist. Sich beizubringen, sie nicht mehr zu verspannen, ist ein langer und schwieriger Prozess ohne Erfolgsgarantie. Aber es ist das Einzige, was funktioniert. Viele von uns haben gelernt, auf unsere Ohren zu achten und zu hören. Auch wenn es uns nicht bewusst ist, wir tun das fast die ganze Zeit. Da ist es klar, dass der Tinnitus sich verstärkt. Normalerweise hört man nämlich nicht so, nicht auf seine Ohren - man hört einfach, ohne dem Medium weitere Beachtung zu schenken.
Zurück zu meinen Selbstversuchen. Über die drei Monate habe ich die Beobachtung gemacht, dass einiges hilft - auf welche Weise auch immer. Alkohol macht den Tinnitus oft erträglicher und unmerklicher, allerdings kann es sein, dass er am nächten Tag wegen der Katerbeschwerden wieder stärker ist. Gutes und gesundes Essen - Salate, viel Obst - beruhigt die Nerven und damit den Tinnitus. Aktivitäten wie Zusammensein mit Freunden, einen guten Film schauen, etc. - das alles macht ihn besser. Wie ich angemerkt habe, hatte und habe ich eine schwere Depression, von der ich mittlerweile gar nicht mehr weiß, ob der Tinnitus durch sie bedingt ist oder sie durch den Tinnitus. Ich kann mittlerweile kaum sechs Stunden durchschlafen, selbst mit Schlaftabletten kriege ich gerade so sieben Stunden hin. Ein disziplinierteres und erfüllteres Leben aber macht's besser.
Schließlich war ich Anfang Juni noch einmal auf einem Rave - völlig verzweifelt durch mein damaliges Herumhocken zuhause. Dort habe ich Ecstasy genommen - eine Mischung aus MDMA und Amphetaminen. MDMA wirkt serotoninwiederaufnahmehemmend - auf Deutsch heißt das, es macht sehr sehr glücklich, weil man auf einmal so viel Serotonin bekommen wie sonst in einem Monat. Dass es eine blöde Entscheidung war, wurde mir zwar klar, als ich am nächsten Tag einen neuen Tinnitus feststellte, der deutlich einem Lärmtrauma zuzuordnen war. Er brauchte zwei Tage, um zu verschwinden. Aber hier ist das seltsame: mein eigentlicher, neuer Tinnitus, der, den ich seit drei Monaten habe, war... weg. Für genau drei Tage. Nach drei Tagen kam er wieder - das ist die Zeit, nach der man beim Ecstasykonsum das Tal erreicht, der Punkt, an dem der Serotoningehalt am Minimum ankommt.
Das ist doch mal ein Hinweis, dachte ich. Das Serotonin, die Entspannung, die veränderte Wahrnehmung... Ich konnte nicht behaupten, an des Rätsels Kern angekommen zu sein, aber ich hatte nun wenigstens die Vermutung, dass es gar kein Rätsel gibt. Dass es lächerlich einfach ist - it's all in your head.
Natürlich ist das einfacher gesagt als getan - sein Hirn umzustellen. Wenn es so einfach wäre, hätte kein Mensch auf der Welt Probleme, Wahres vom Falschem und Einbildung von Realität zu unterscheiden, und doch scheinen die meisten Menschen damit sogar ganz massive Probleme zu haben.
In den letzten drei Monaten hat sich mein Leben massiv verändert. Nicht nur, dass ich die meisten meiner Freunde durch meine Beschwererei vergrault habe - die Depression raubt mir auch den Antrieb, so dass ich es nicht einmal schaffe, meinen Umzug auf die Beine zu stellen. Im Regal habe ich Escitalopram liegen. Ich nehme es nicht, weil es als ototoxisch gilt und sich einige Patiente darüber beschweren, dass es ihren Tinnitus verstärkt habe. Diese Angst - die Angst vor Medikamenten, falschen Handlungen, die Angst davor, dass es schlimmer werden könnte - ist es, was vielen von uns das Leben vermiest. Es ist eigentlich nicht einmal der Tinnitus. Der Tinnitus ist doch nur ein weiteres Geräusch, das man nicht abstellen kann - man ist täglich von tausenden solcher Geräusche umgeben. Es ist die Angst, dass es bleibt oder schlimmer wird - bei mir wird diese Angst dadurch verstärkt, dass ich in den letzten Wochen mehrmals Mini-Spikes hatte, die zwar immer vorbeigegangen sind, aber mir Angst machten. Auch diese Angst muss man bekämpfen und hinter sich lassen.
Die Wahrheit ist, dass uns niemand und nichts davon abhält, das Leben einfach zu leben und zu genießen. Das sind nur wir selbst. Wenn Du das hier liest - Du kannst jetzt sofort aufhören zu lesen und irgendwas machen, was Du eigentlich machen willst, denn was auch immer es ist, es ist sicher nicht, meine Vorstellung hier im Tinnitusforum zu lesen. Ich spiele in Deinem Leben nur insofern eine Rolle, als dass ich Tinnitus habe. Das ist überhaupt kein guter Grund dafür, dass ich in Deinem Leben auftauche. Du liest das hier nur, weil irgendein Teil von Dir meint, es lesen zu müssen, aber das ist eine Lüge. Wir haben es vielleicht nur vergessen, wie es ist, einfach zu leben, aber es ist jederzeit möglich. Du hast Angst, dass es schlimmer wird? Lass Dir diesen Satz doch einfach auf der Zunge zergehen. Schlimmer geht immer, richtig? Jeden könnte der verdammte Schlag treffen, in der nächten Minute. Es ist jetzt gerade ja nicht schlimmer. Jetzt gerade ist es so, wie es ist. Es geht doch, oder? Was ist eigentlich gerade so schlimm?
Denk mal an all die Zeiten, in denen Du in Dich hineingehorcht hast, Dich auf Deinen Tinnitus konzentriert hast, an ihn gedacht. Was haben sie Dir gebracht? Du bist doch immer noch hier, und gerade geht's - worum hast Du Dir also Sorgen gemacht? Ich glaube, viele von uns glauben insgeheim, dass es gerade nur geht, WEIL wir dem Tinnitus bisher solche Beachtung schenkten, aber das ist natürlich Unsinn. Es geht nicht deswegen, sondern trotzdem. Dieser Gedanke sitzt nur tief und es ist nicht leicht, ihn zu entdecken - aber sobald man ihn entdeckt, wird auch schon klar, was für ein Unsinn es ist.
Ich arbeite gerade daran, mein Leben zu ändern. Es geht nicht nur um den Umzug - ich bin heute morgen aufgestanden und habe plötzlich gespürt, dass mein gesamtes bisheriges Leben eine egoistische One-Man-Show war. Es ist kein Wunder, dass ich Tinnitus habe - ich konzentriere mich meistens nur auf mich selbst. Das funktioniert nun nicht mehr. Ich kann mich nicht ewig darüber hinweglügen, dass meine Existenz im Grunde für niemanden von besonderer Bedeutung ist und niemandem großartig hilft. Wir haben eine Flüchtlingskrise und unsere Communities haben einen Haufen anderer Probleme. Es wird so langsam Zeit, mal etwas anderes als nur meinen eigenen Arsch zu entdecken, um den ich so lange gebangt habe, pardon my French.
Das ist alles nicht einfach, aber was ist schon einfach? Es gibt schon einen Grund, warum der Tinnitus und die Depressionen aufgetaucht sind, und da gab es sicherlich davor schon Vorwarnungen, die ich ignoriert habe. Wenn man es halt so weit treibt, dann muss man auch ein bisschen was dafür tun, wieder klarzukommen. Aber es ist wirklich jederzeit möglich. Man kann jeden Tag aufstehen mit dem Vorsatz, einen neuen Menschen kennenzulernen, einen Film zu drehen, seinen Job hinzuschmeissen, nach China überzusiedeln - ist das nicht viel besser, als in Paranoia und Grübelei zu versinken?
Es ist ein ganz schön langer Beitrag geworden, und ich hoffe, irgendjemand liest ihn tatsächlich bis zum Ende durch. Falls Du das hier immer noch liest, hoffe ich, dass meine Erfahrungen Dir irgendetwas bringen. Just remember - it's all in your head.
Beitrag geändert von CesipXynic (03-09-2015 12:49:22)
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